Anstelle von Tasten und Schaltern baut die PS-Branche immer mehr und immer größere Bildschirme ein. Und was an Ergonomie auf der Strecke bleibt, soll künstliche Intelligenz kompensieren.
Immer mehr Autohersteller bauen riesige Displays ins Armaturenbrett – nicht nur in der Oberklasse. Bis hin zu den Kleinwagen wie etwa beim Renault Clio werden imposante Displays geschraubt. Neuerdings wird sogar das gesamte Armaturenbrett durch einen einzigen Bildschirm ersetzt. Das ist kein Wunder, sagt Jan Burgard vom Strategieberater Berylls: „Schließlich kann man viele Kunden heute eher mit den Zentimeterangaben zur Bildschirmdiagonale beeindrucken als mit der Zahl der Zylinder“, beobachtet er eine vom Smartphone initiierte Verschiebung der Prioritäten.
Am konsequentesten hat darauf vor 2 Jahren der chinesische Hersteller Byton reagiert, dessen M-Byte als aktueller Rekordhalter für Bildschirmgröße gilt – zumal sich dort nach Angaben des Unternehmens nicht nur ein Screen quer durchs ganze Auto zieht, sondern auch im Lenkrad und auf dem Mitteltunnel noch ein Touchdisplay integriert ist.
Weil der Geländewagen allerdings gerade in einem Finanzierungstief steckt, will Mercedes nun den Chinesen mit dem Hyperscreen für den neuen EQS die Schau stehlen. Wenn die Elektro-Alternative zur S-Klasse im zweiten Halbjahr startet, wird auch bei ihr das gesamte Armaturenbrett aus einer durchgehenden Glasfläche bestehen, unter der 3 Bildschirme miteinander verschmelzen, hat Designchef Gorden Wagener angekündigt. Zwar sollen darunter 12 Aktuatoren für ein haptisches Feedback sorgen, doch nach echten Schaltern tasten die Finger weitgehend vergebens.
BMW hat die nächste Generation des iDrive angekündigt, die 20 Jahre nach dem Start des Bedienkonzepts im Laufe des Jahres im E-Auto iX ihren Einstand geben soll. Nach ersten Fotos zu urteilen setzt auch sie auf einen XXL-Bildschirm statt vieler Knöpfe, selbst wenn der nur bis knapp über die Mitte des Wagens reicht.
Es geht der PS-Branche aber nicht allein um die Bildschirmoberfläche, die beim Mercedes rekordverdächtige 2,5 Quadratmeter misst, sondern auch um die Darstellungstiefe. Um da zu punkten, entdecken Hersteller und Zulieferer sogar die dritte Dimension: In der neuen Mercedes S-Klasse erscheinen Navigationsgrafiken deshalb auch ohne spezielle Brille dreidimensional mit Tiefenwirkung.
Auch der Beifahrer kann nun mehr profitieren
Der Zulieferer Continental fängt mit einem gemeinsam mit dem US-Start-up Leia entwickelten 3D-Display buchstäblich die Blicke. Denn auf dem laut dem Unternehmen bis 2022 serienreifen Bildschirm wachsen Stadtszenen förmlich aus der Navigationskarte, Anrufer werden als beinahe greifbare Animationen visualisiert und statt einfacher Warnhinweise stehen bei Gefahr plötzlich Stopp-Schilder im Raum. Mit den ausufernden Bildschirmlandschaften profitiert endlich auch der Beifahrer von der schönen neuen Infotainment-Welt. Der blieb bis dato weitgehend vom Unterhaltungsprogramm ausgeschlossen. Einzig sogenannte Dual-View-Bildschirme, die je nach Blickwinkel unterschiedliche Bilder zeigten, haben ein wenig Abhilfe geschaffen, konnten sich aber nie so recht durchsetzen. Jetzt muss der Sozius nicht mehr zur Seite starren, auf optische Tricks vertrauen oder sich mit winzigen Anzeigen wie etwa bei Ferrari begnügen. Sondern schon im Porsche Taycan gibt es für ihn einen gleichberechtigt großen Bildschirm. Und im Byton M-Byte oder auf dem Hyperscreen des Mercedes EQS hat er ebenfalls seinen eigenen Elektronikreich.
Allerdings muss man nicht in der elektrischen Oberklasse unterwegs sein, wenn man als Beifahrer auf den Bildschirm schauen will. So hat der neue Citroën C4 zwar ein eher konventionelles Cockpit, überrascht dafür aber mit einer pfiffigen Schublade über dem Handschuhfach, in der crashsicher und für den Fahrer unsichtbar ein Tablet-Computer befestigt werden kann.
Bedenken wegen mehr Ablenkung
Zwar sorgt die fortschreitende Digitalisierung für reichlich Kurzweil und in den Augen von Designern wie Gorden Wagener auch für eine neue, zeitgemäße Ästhetik. Doch ruft dieser Trend auch Kritiker auf den Plan. Die Fokussierung auf Touchscreens fördere die Ablenkung, hat etwa das Oberlandesgericht Karlsruhe geurteilt und den Bildschirm eines Tesla auf die gleiche Stufe gestellt wie ein Handy. Und der Verzicht auf allzu viele Schalter erschwert die Bedienbarkeit.
Davon können aktuell vor allem die Käufer des neuen VW Golf ein (Klage)Lied singen. Denn nachdem die Niedersachsen fast alle Taster durch Sensorfelder, Slider und Bildschirme ersetzt und sich für einige Bedienelemente auch noch die Beleuchtung gespart haben, wird der Bestseller in vielen Tests als schier unbedienbar kritisiert.
Dabei muss die Sicherheit aus Sicht der Ergonomie immer an erster Stelle stehen, sagt Guido Meier-Arendt, der beim Zulieferer Continental die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine (HMI) erforscht. Das wichtige Ziel bleibe eine ablenkungsfreie Interaktion. „Solange der Fahrer die Verantwortung trägt, muss seine Aufmerksamkeit auf dem Straßenverkehr verbleiben“, sagt der Entwickler und fordert, dass sicherheitskritische Funktionen wie etwa die Scheibenwischer, der Warnblinker oder das Licht deshalb immer mit physischen, feststehenden Bedienelementen zu aktivieren sind.
Allerdings gebe es nicht mehr die eine richtige Bedienphilosophie, sondern der Schlüssel für eine attraktive und damit begeisternde Bedienung sei die Mischung aus Haptik auf Tasten und Touchscreen, Sprache, Gestik oder Mimik.
(dpa/tmn)