Evelyne Aschwanden hat jahrelang gewartet. Darauf, dass es sich endlich einstellt – die Verliebtheit, das Verlangen nach Sex. Sie spürte gründlich in sich hinein, suchte die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Doch dort blieb es ruhig.
Was stimmt nicht mit mir? Das fragte sie sich, wenn sie sah, wie ihre Schulfreundinnen und -freunde die ersten Schritte in die romantische Liebe wagten. Wie sie verknallt waren bis in die Haarspitzen. Evelyne Aschwanden fand das übertrieben, wollte aber dazugehören. Und dann war da dieser Junge. „15 Jahre alt waren wir“, sagt sie. „Er war in mich verliebt.“ Ihre Freundinnen drängten sie und so wurden die beiden ein Paar. „Ich fand ihn toll“, erinnert sich Evelyne Aschwanden. „Aber dieses Gefühl kam nicht von tief innen.“
Schnell spürte sie, dass sie dem Jungen nicht geben konnte, was er sich wünschte. Sie trennte sich – und fühlte sich befreit.
Mittlerweile ist sie 26 Jahre alt. Ein paar Dates hatte sie zwar, aber nie eine Beziehung. Auch Sex hat Aschwanden nie ausprobiert. Ihr fehlt nichts, sagt sie. „Meine Abneigung gegen Sex und Romantik ist ein tief in mir verankertes Gefühl. Es gehört zu mir.“ Evelyne Aschwanden ist asexuell und aromantisch.
Asexuell – was bedeutet das eigentlich?
Asexualität – ein Thema beladen mit Vorurteilen. „Du musst nur die richtige Person kennenlernen“, „Das ist eine Störung, lass dich behandeln“, „Du bist doch einfach nur frustriert und findest keinen Partner“ – das sind Sätze, die Evelyne Aschwanden auf ihrem Instagram-Account findet, auf dem sie offen von sich erzählt. „Nichts davon ist wahr“, sagt sie.
Eine allgemeingültige Definition von Asexualität zu finden, sei schwierig, sagt Irina Brüning. Sie ist Vorstandsmitglied von AktivistA, einem Verein, der das asexuelle Spektrum sichtbar machen will. Man könne sagen, Asexualität sei eine sexuelle Orientierung nach nichts.
Inzwischen hätten sich 2 Definitionen etabliert. „Viele sagen, dass sie keine sexuelle Anziehung gegenüber anderen empfinden“, sagt Brüning. „Andere drücken es lieber so aus, dass sie kein Verlangen nach sexueller Interaktion haben.“
Aber auch das decke nur einen kleinen Ausschnitt ab. Denn Asexualität kann ganz unterschiedlich aussehen. „Manche Menschen fühlen sich von Geschlechtsverkehr abgestoßen, kuscheln oder küssen aber gerne“, sagt Brüning. „Manche befriedigen sich selbst oder stehen dem Thema Sex einfach gleichgültig gegenüber.“ Sie alle hätten jedoch eines gemeinsam: Für sie ist Geschlechtsverkehr nicht nötig, um Liebe auszudrücken.
In aller Regel gibt es keinen Leidensdruck
Aber woher kommt das sexuelle Desinteresse an anderen Menschen? Eine Erklärung dafür gibt es nicht, sagt Prof. Johannes Fuß, Direktor am Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung der Universität Duisburg-Essen.
Wichtig sei aber, dass Asexualität keine Störung und nicht behandlungsbedürftig sei. „Asexuelle verspüren aufgrund ihrer Orientierung in der Regel keinen Leidensdruck. Und wo kein Leid ist, müssen wir nicht behandeln“, sagt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Eine Störung liege eher im Umfeld, das häufig noch zu wenig über Asexualität wisse und Betroffene oft stigmatisiere oder unter Druck setze.
Austausch mit anderen Asexuellen ist wichtig
Rund ein Prozent der Deutschen fühlt sich laut Schätzungen dem asexuellen Spektrum zugehörig – entsprechend gering sei die Aufklärung, sagt Irina Brüning vom Verein AktivistA. Sie wünscht sich mehr Sichtbarkeit, damit gerade junge Menschen Erklärungen und Anschluss zu anderen asexuellen Menschen finden.
Beratung und Austausch können Betroffene finden in der WhatsApp-basierten Community „Ameisenbären – Community für das asexuelle und aromantische Spektrum“. Zu finden ist sie über die angeschlossene, gleichnamige Facebookseite. Auch Aspec*german ist Anlaufstelle für Interessierte – genauso wie der Verein AktivistA.
Aufklärung: Mehr über Lust und Unlust sprechen
„Mit einer entsprechenden sexuellen Aufklärung könnten wir es jungen Leuten leichter machen, sich selbst zu finden“, sagt Johannes Fuß. Eine Möglichkeit sei es, im Rahmen des Sexualkundeunterrichts auch über Lust und Unlust zu sprechen.
Kinderplanung – auch das sei ein Thema, mit dem vor allem asexuelle Frauen immer wieder konfrontiert würden, sagt Irina Brüning vom Verein AktivistA. „Nur weil Menschen sich sexuell nicht zu anderen hingezogen fühlen, können sie trotzdem eine Familie gründen.“ Das sei beispielsweise bei asexuellen Menschen der Fall, die in einer Beziehung seien und zwecks Familienplanung Sex haben.
Eine Beziehung ohne Sex könne aber natürlich auch Schwierigkeiten bereiten, sagt Irina Brüning. „Wenn der eine will und der andere nicht, muss man Wege finden.“ Viele asexuelle Menschen, die romantisch veranlagt sind, fänden häufig Kompromisse innerhalb ihrer Beziehung. Oder: Sie suchten sich von vornherein einen ebenfalls asexuellen, aber romantischen Partner. (dpa/tmn)
© Alle Rechte vorbehalten